Von Oliver Reese
"Gestern den ganzen Tag in Elberfeld herum gelaufen. Zimmersuche. Keinen Menschen angetroffen... Ich denke über das Geldproblem nach. Verzweifelte Gedichte. Geistige Klärung. Bayern. Hitler... Revolution in mir. Pessimismus gegen alles. Ja, das Chaos muss kommen, wenn es besser werden soll."
So geht es weiter, tausende von Seiten lang. Es wurde nicht besser. Es nahm die schlimmstmögliche Wendung. Seit 1924 schrieb der spätere NS-Propagandaminister Joseph Goebbels bis zu seinem Selbstmord im Führerbunker Tagebuch. Einen "pathologischen Aufschneider" nennt er sich schon auf den ersten Seiten und sieht sich in der Gefahr "ein Demagoge schlimmster Sorte" zu werden. Ein Theaterabend über die Entwicklung eines der gefährlichsten Demagogen der deutschen Geschichte von Oliver Reese, Chefdramaturg am Deutschen Theater Berlin.
Regie: Oliver Reese
Darsteller: Ingo Hülsmann, Alexander Khuon, Thomas Schmidt und Frank Seppeler
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte: "Gut abgestimmt und schön ausbalanciert, gelingt es diesem Albtraum-Quartett mit vereinten Kräften, eine so zerrissene wie entschlossene, so tückische wie triste Persönlichkeit zu zeichnen. Sie schreien und flüstern, reden sich feldwebelhaft in Rage und sentimental in die Leidenspose des Welterlösers. Trotz aller darstellerischen Kunstfertigkeit lassen sie die historische Figur nicht auferstehen, sondern packen sie im Nacken und schütteln sie, bis ihr Panzer aus Selbststilisierung, Pathos und Arroganz zerspringt. Weder kopieren sie Goebbels charakteristische Redeweise noch seine Gehbehinderung, flirten allerdings gekonnt mit dem Publikum. Nur als sich Khuon am Schluß, Nietzsche zitierend, allein auf den Tod vorbereitet, kommen die anderen plötzlich in hellen Nadelstreifenanzügen zurück, wie Goebbels sie gern trug, und mit orthopädischen Schuhen. An kleine Gauner erinnern sie, und so grinsen sie auch.
Das Bühnenbild von Hansjörg Hartung karikiert die nationalsozialistische Architektur als Terror der Symmetrie. (...) Hier hat Reeses sachlich-klare, geschickt rhythmisierte Inszenierung ihre deutlichste Stellungnahme zum deutschen Faschismus verpackt: Die beiden Hasen sehen alles, tun nichts - außer fressen - und haben sicher nie etwas gewußt."
In der "taz" stand: "Was Reese vorführt, ist weniger das Porträt einer konkreten historischen Person als das Psychogramm des faschistischen Menschen, und die treten ja grundsätzlich in Kollektiven auf. Deutlich wird, wie der Faschismus und seine Propaganda sich beständig an der Brutalisierung der eigenen Rhetorik entzünden muss, will er nicht in Orientierungslosigkeit, Langeweile und Selbstzweifel zurückfallen."
"Es geht um die Vergegenwärtigung eines besonders gruseligen Exemplars des modernen kleinbürgerlichen Intellektuellen", meint Die Welt - und die Berliner Zeitung ergänzt: "Bei allem furchtbaren Wirken in der Wirklichkeit ist Goebbels sich nie selbst wirklich geworden. Diese Monströsität auf einfache Weise noch einmal eindrücklich vorgeführt zu haben, ist der Verdienst dieser Arbeit."
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